Weihnachten in der Wildnis
Veröffentlicht am 19.12.2024
Ein Gastbeitrag vom in Kanada lebenden Journalisten Jörg Michel
Als ich vor fünfzehn Jahren von Deutschland nach Kanada zog, hatte ich ein romantisches Bild vom kanadischen Winter im Kopf. Von einsamen Blockhütten im Pulverschnee, irgendwo mitten in der Natur, fern der Zivilisation. An so einem besonderen Ort wollte ich einmal die Weihnachtstage verbringen, irgendwo in der Stille in den unendlichen Weiten der Rocky Mountains.
Ein paar Jahre später geht der Traum in Erfüllung. In einem besonders schönen Winter lasse ich den weihnachtlichen Rummel tatsächlich hinter mir für ein paar Tage in der Wildnis ohne Handy, Fernseher oder Radio. Mit Schneeschuhen geht’s zu einer entlegenen Blockhütte in die Tiefen der Rocky Mountains. Fünf Stunden zu Fuß durch das Winterwunderland – einfache Strecke.
Die Hütte heißt Skoki Lodge. Sie liegt im Hinterland des Banff Nationalpark auf über 2.100 Metern Höhe unweit von Lake Louise. Die Hütte ist ein rustikaler Ort, entlegen wie jener Stall, in dem das Jesuskind geboren wurde. Keine Straße führt dorthin, keinen Skilift und kein Helikopter. Es hat kein Strom, kein fließendes Wasser, keine Zentralheizung, keinen Empfang für Smartphone oder Tablet.
Gebaut wurde die Blockhütte im Jahre 1930 als rustikale Unterkunft für die ersten Skitouristen in den kanadischen Rocky Mountains. Heute gilt sie als die älteste Berghütte in Kanada. Die Route dorthin ist 14 Kilometer lang, insgesamt geht es 800 Höhenmeter nach oben – Schritt für Schritt durch den Tiefschnee. Wer mag, kann auch Tourenski mit Steigfellen benutzen.
Für die Tour zur Hütte habe ich mir einen dicken Canada-Goose-Parka übergestreift, samt Kapuze mit Kojotenfell. Anfangs zieht mir die bittere Kälte bis auf die Haut. Minus zwanzig sind nicht zu unterschätzen, selbst in Kanada. Doch zum Glück habe ich eine Thermoskanne mit heißem Tee in meinen Rucksack gepackt, und schon bald wird es mir warm. Es geht stets voran, den Berg hinauf.
Nach etwa 350 Höhenmetern lasse ich den Fichtenwald hinter mir und überquere an einem Pass die Baumgrenze. Ich wandere durch eine magische Berglandschaft aus Eis und Schnee, an einem zugefrorenen See entlang, dann über einen zweiten Pass, den höchsten Punkt der Tour. Nach einem entspannenden Abstieg taucht auf einer Lichtung schließlich die Hütte samt Nebengebäuden auf.
Auf den Dächern der Blockhäuser liegt meterhoher Schnee, aus den steinernen Kaminen quillt dichter Rauch. Über der Eingangstür des Haupthauses prangt ein Geweih und ein Schild mit dem Namen „Skoki“ – benannt ist die Hütte nach dem gleichnamigen Tal im Nationalpark, in dem sie liegt. Neben der Eingangstür stapeln sich bunte Skier und Schneeschuhe aus Aluminium.
Mich empfangen Wärme und der Duft einer Gemüsesuppe. Die Hütte ist bewirtet, versorgt wird sie im Winter per Motorschlitten. Für Gemütlichkeit sorgen ein paar Petroleumlampen, ein Holzofen, ein kuscheliges Holzbett, ein paar Wolldecken, ein altes Klavier. An den Wänden hängen alte Schneeschuhe aus Holz und Leder. Der Dielenboden knarrt bei jedem Schritt.
Bis zu 26 Gäste kommen in dem denkmalgeschützten Ensemble unter. Die Plumpsklos liegen im Freien, fast wie bei einem Campingplatz. Zum Waschen bekomme ich eine Kanne mit lauwarmem Wasser aufs Zimmer gebracht – angewärmt auf einem Bollerofen. Die Handtücher sind frisch, weich und warm – ein Hauch von Luxus in der weiten Wildnis von Kanada.
Am Weihnachtstag zieht Bratenduft durch die Ritzen im hölzernen Fußboden in mein Zimmer im ersten Stock. Höchste Zeit, nach unten zu gehen! Die lange Holztafel im Speiseraum ist gedeckt, schlicht, aber schön. Ein paar Kerzen auf dem Tisch sorgen für gedämpftes Licht. Ein Gast spielt weihnachtliche Musik auf dem Klavier. Er trifft nicht jeden Ton, aber es ist trotzdem schön.
Als sich alle Gäste versammelt haben, wird das Weihnachtsmenü serviert: Minestrone, Truthahn mit Fülle, dazu Kartoffeln und frisches Gemüse – rustikal, fast wie bei Muttern. Das Besteck klappert, die Weingläser klirren, die Menschen lachen und lernen sich kennen. Alle, die an diesem festlichen Tag in der Wildnis aufeinandertreffen, wollten das ausdrücklich so – das verbindet.
Das nächste Dorf und die nächste Kirche sind einen Halbtagesmarsch entfernt. Und doch fehlt es nicht an Besinnlichkeit. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel, in der Ferne heulen Kojoten, am Himmel leuchten Millionen Sterne, unter den Stiefeln knirscht der Schnee. Nach dem Essen gibt’s ein gutes Buch am knisternden Kamin, dazu Klaviermusik, Glühwein und Gewürzplätzchen.
Weihnachtsgeschenke konnte ich in meinem kleinen Outdoor-Rucksack übrigens keine zur Hütte mitnehmen. Ich vermisse sie nicht. Ich finde, die großartige Natur da draußen ist Geschenk genug.
ENDE
Informationen:
Die Skoki Lodge hat im Sommer zwischen Juni und Oktober geöffnet, im Winter von Ende Dezember bis Anfang April. Einzelzimmer gibt es ab $229, Doppelzimmer ab $599 inklusive Vollpension.
Der Wanderweg zur Lodge befindet sich in Lake Louise im Banff Nationalpark, etwa 180 Kilometer oder zwei Autostunden westlich von Calgary. Geparkt wird am Fish Creek Parkplatz nahe des Ski-Resorts von Lake Louise. Von dort bringt ein Shuttlebus Gäste zum Ausgangspunkt der Tour. Je nach Fitness und Ausstattung braucht man mit Skiern oder Schneeschuhen drei bis fünf Stunden. https://www.skoki.com/location/
Erforderlich ist ein Eintrittspass für den Banff Nationalpark. Der Tagespass kostet $11 pro Person, der Saisonpass $75,25. Parks Canada Nationalpark-Pass
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Gerne organisieren wir für Sie Wintertouren und Winterreisen in Kanada.
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Jörg Michel arbeitet als freier Journalist, Buchautor und Auslandskorrespondent in Kanada. Nach über zehn Jahren bei einer Tageszeitung in Berlin war er 2010 nach Kanada ausgewandert. Dort lebte er unter anderem in Banff, Jasper und Victoria bevor er nach Calgary zog. In Kanada hat er alle Provinzen und Territorien bereist, meist mehrmals. Im 360-Grad-Verlag sind von ihm zwei Reiseführer „abseits der ausgetretenen Pfade“ erschienen: einer über Alberta, einer über British Columbia.
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